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Die Ukraine im russischen Angriffskrieg: Binnenentwicklungen im Zusammenhang mit dem EU‑Beitrittsverfahren

SWP-Studie 2024/S 16, 05.06.2024, 37 Pages

doi:10.18449/2024S16

Research Areas

Dr. Susan Stewart ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

  • Der russische Angriffskrieg hat bewirkt, dass sich die Beziehungen zwischen EU und Ukraine vertieften. Abzulesen ist das vor allem am Status der Ukraine als EU-Beitrittskandidat.

  • Trotz des Krieges setzt die Ukraine Reformen in vielen Bereichen fort, auch wenn das Reformtempo seit Februar 2022 nachgelassen hat.

  • Die starke Konzentration der Macht im Präsidialamt beeinträchtigt die Gewaltenteilung. Sie erschwert eine effektive Reform des Justizsektors und eine vollständige Ausübung parlamentarischer Funktionen.

  • Der Krieg hat die Macht der Oligarchen in der Ukraine in vielerlei Hin­sicht geschwächt. Was die Form des Regierens anbelangt, bildete er aber noch keine klare Zäsur.

  • Auch während der Invasion führen die Behörden ihren Kampf gegen Korruption unter den Eliten weiter. Die Bevölkerung registriert Fortschritte dabei, aber Korruption auf höchster Ebene bleibt nach wie vor eine tief verwurzelte Herausforderung.

  • Zivilgesellschaftliche Aktivitäten haben sich durch den Krieg qualitativ wie quantitativ verändert. Ein solches Engagement ist seit der Invasion wichtiger geworden. Es kann unter anderem durch die Rückkehr ukrainischer Migrant:innen sowie durch die Einbindung von Ukrainer:innen im Ausland gefördert werden.

  • Die Kommunen werden eine Schlüsselrolle beim Wiederaufbau spielen oder tun dies bereits. Sie sollten kontinuierlich in sich derzeit heraus­bildende Mechanismen und Prozesse einbezogen werden, damit der Wiederaufbau in all seinen Dimensionen gelingt.

  • Um die Beziehungen zwischen Ukraine und EU sinnvoll zu intensivieren, ist es unerlässlich, Rechtsstaatlichkeit auszubauen und zu festigen. Dies betrifft nicht nur die Ukraine, sondern auch die Binnenentwicklung der EU und ihrer Mitgliedstaaten.

Problemstellung und Schlussfolgerungen

Im Juni 2022 beschloss der Europäische Rat, der Ukra­ine den Status eines Kandidatenlandes zu verleihen. Mit diesem Schritt kam Kyjiw politisch gesehen einem EU-Beitritt sehr viel näher als in vielen Jahren zuvor.

Ohne die mutige und entschlossene ukrainische Reaktion auf die russische Aggression seit dem 24. Februar 2022 wäre eine solche Entwicklung nicht denkbar gewesen. Es war die nachdrückliche Ver­teidigung von Werten wie Freiheit, Souveränität und territorialer Integrität, die auch Skeptiker:innen in den EU-Mitgliedstaaten überzeugt hat, diesen Schritt zu gehen.

Im Dezember 2023 erging zudem der Beschluss des Europäischen Rates, Beitrittsverhandlungen mit Kyjiw aufzunehmen. Bereits Ende Januar 2024 begann das sogenannte Screening. In diesem Verfah­ren wird ein Überblick über die Gesetze erstellt, die für den Beitritt mit der bestehenden Gesetzgebung und dem Regel­werk der EU harmonisiert werden müssen. Im März schlug die Europäische Kommission einen Verhandlungsrahmen vor.

Im Lichte des fortschreitenden Beitrittsprozesses einerseits und des sich fortsetzenden Krieges anderer­seits drängt sich die Frage auf, welche Voraussetzungen in der Ukraine für den EU-Beitritt gegeben sind und wie sich diese im Laufe der mehr als zwei Kriegs­jahre entwickelt haben. Dieser Frage wird in der fol­genden Analyse nachgegangen. Erstens werden die Reformkapazität des Landes zu Kriegszeiten unter die Lupe genommen und die Reformfortschritte untersucht, die in den letzten zwei Jahren erzielt werden konnten.

Zweitens hat sich die Ukraine während des Krieges erheblich verändert. Die politische Sphäre sowie die (Zivil-)Gesellschaft mussten sich den Bedürfnissen in­folge einer großangelegten Invasion anpassen. Nicht nur sind Ressourcen in den Krieg statt in Reformen geflossen. Vielmehr hat der Krieg eine Reihe qualita­tiver Änderungen nach sich gezogen. Diese gilt es bei einem möglichen EU-Beitritt ebenso zu berücksichtigen wie im Hinblick auf die EU-Ukraine-Beziehungen insgesamt.

Drittens ist aus Sicht von EU und Ukraine der Wiederaufbau des Landes eng mit dem Prozess des EU-Beitritts verknüpft. Von daher wird die Sicht ukrainischer Akteur:innen auf den Wiederaufbau maßgeblich für die Schritte auf dem Weg zum Beitritt sein. Wie sie ihn institutionell und operativ gestalten, wird den Nexus zwischen EU-Beitritt und Rekon­struktion prägen sowie Charakter und Tempo beider Pro­zesse mitbestimmen. Deshalb wird beleuchtet, wie sich die Ukraine für den Wiederaufbau aufstellt, welche praktischen Aktivitäten bereits laufen und welche Folgen sie für den Beitrittsprozess haben und haben werden. Hierbei liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der kommunalen Ebene.

Die Antworten auf diese Fragen hängen miteinander zusammen und ergeben ein komplexes Bild. Fest­zustellen ist erstens, dass Reformen auch in Kriegs­zeiten erfolgreich fortgeführt werden. Das Tempo ist langsamer geworden, aber Fortschritte sind möglich, und es lohnt sich, die Ukraine auch künftig auf dem Reformweg zu unterstützen und das Beitrittsverfahren weiterzuverfolgen. Hilfe wird allerdings unabdingbar sein, und zwar bei administrativen Kapazi­täten und Verhandlungsexpertise für den Beitrittsprozess, wie ukrainische Akteur:innen selbst bereit­willig zugeben. Dies ist umso mehr der Fall, weil gewisse Unsicherheit über die Umsetzung der neuen Methode der EU-Erweiterung besteht.

Zweitens hat der Krieg keine Zäsur im Regierungsstil der ukrainischen Eliten bewirkt. Freilich ist in Kriegssituationen eine stärkere Zentralisierung von Aufgaben üblich und notwendig, doch im ukrainischen Kontext nimmt sie problematische Ausmaße an. So werden Netzwerke und Strukturen geschaffen oder modifiziert, welche die Grundlage für eine neue Nachkriegsoligarchie bilden könnten. Notwendige Trendwenden (tipping points) bei Schlüsselreformen könnten so vor allem im Bereich Rechtsstaatlichkeit verhindert werden.

Drittens findet aufgrund des Angriffskrieges eine Ausdifferenzierung (zivil)gesellschaftlicher Akteur:in­nen statt. Selbst im Vergleich zur Situation nach 2014 stieg die Anzahl der an zivilgesellschaftlichen Akti­vitäten unterschiedlicher Art beteiligten Personen sowie sowie der Bereiche, in denen sie aktiv sind. Dennoch haben sich zivilgesellschaftliche Ressourcen für die Unterstützung von Reformen und die Kon­trolle über deren Umsetzung verringert, weil andere, kriegsrelevantere Sphären abgedeckt werden müssen. Bruchlinien, die in der Gesellschaft entstehen, erfor­dern zudem mehr Arbeit in puncto gesellschaftlicher Zusammenhalt. Diese dynamische Situation bietet der EU neue Möglichkeiten für Kooperation mit der ukrainischen Zivilgesellschaft, erzeugt aber gleich­zeitig neue Herausforderungen.

Was den Wiederaufbau betrifft, ist über die be­stehende institutionelle Architektur auf internationaler wie nationaler Ebene hinaus vor allem die kom­mu­nale Ebene stärker in den Blick zu nehmen. Hier wird offenbar, dass sich je nach Gemeinde verschiedene Modelle des Wiederaufbaus entwickeln. Manche setzen stärker auf vertikale, andere auf horizontale Verbin­dungen. Auch die Mischung von Kooperation mit ukrainischen und internationalen Unterstützer:innen fällt unterschiedlich aus. Es wird zu den ständigen Aufgaben des Wiederaufbaus gehören, eine sinnvolle Einbindung kommunaler Akteur:innen (Behörden sowie Zivilgesellschaft und Unternehmertum) immer wieder zu sichern und zu vertiefen. Parallel dazu sollten kommunale Strukturen gestärkt werden, zum Beispiel durch die Fortsetzung der bis­lang sehr erfolg­reichen, aber noch nicht abgeschlossenen Dezentralisierung. An dieser Stelle schließt sich der Kreis und kehrt zurück zu Fragen von Reformen und politischer Entwicklung, indem sowohl Reformpotential als auch das Fehlen entscheidender Wende­punkte für den Wiederaufbau relevant werden. Die Hindernisse auf dem Weg zu einer vollständigen Dezentralisierung müssen ausgeräumt werden, damit die kommunale Ebene eine möglichst effektive Rolle beim Wiederaufbau spielen kann.

Quelle und Link zur vollständigen Studie der SWP

 

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