Brussels, 23 October 2024
Shein, Temu und Co: Zwölf Forderungen zur Durchsetzung des hohen EU- Verbraucherschutzes im Online-Handel
Von Anna Cavazzini und Alexandra Geese
Der Online-Handel wächst rasant, vor allem mit Importen aus China
Drei von vier EU-Bürger*innen haben 2023 Produkte online eingekauft, Tendenz nicht erst seit der Pandemie stark steigend.[1] Viele Verbraucher*innen kaufen nicht mehr direkt bei Marken oder Shops, sondern über Online-Marktplätze, die als Vermittler zwischen ihnen und Drittanbietern fungieren. Besonders stark wächst der Anteil des Online-Handels mit Herstellern aus Drittstaaten und zwar zwischen 2017 und 2021 um fast 20 Prozent pro Jahr. [2] Und unter den Drittstaaten liegt China deutlich auf dem ersten Platz: 45 Prozent der Verbraucher*innen, die in Drittländern einkaufen, haben Produkte aus China gekauft.[3]
Das Geschäftsmodell von Temu, Shein und Co. ist auf dem Vormarsch
Während weltweit Amazon und AliExpress auch 2023 noch die führenden Online-Marktplätze bleiben, steigt der Anteil zweier Newcomer rasant. Bereits jetzt liegt Shein auf Platz drei und Temu auf Platz vier, letztere wurde ein Jahr zuvor noch nicht einmal erfasst.[4] Ihr Geschäftsmodell legt Wert auf Schnelllebigkeit und Masse: Shein produziert beispielsweise 7.200 neue Artikel am Tag und hat seinen Umsatz in den letzten drei Jahren um 900 Prozent gesteigert.[5] Ein T-Shirt für zwei Euro, eine Tasche für fünf Euro oder eine Jacke für 25 Euro – diese niedrigen Preise verdrängen nicht nur europäische Wettbewerber vom Markt, sondern gehen auf Kosten von Mensch und Umwelt entlang der Lieferkette und langer Transportwege – und unserer Verbraucher- und Sicherheitsstandards in der EU.
Zoll und Marktüberwachung sind angesichts der Flut von Billigprodukten überfordert
Massenweise landen chinesische Billig-Produkte direkt an der Türschwelle von Verbraucher*innen. Gegenüber der immer größer werdenden Flut von Waren und einzeln verschickten Billig-Produkten sind Zoll und Marktüberwachung hilflos, wenn es um die Überprüfung unserer Standards geht. Im Jahr 2023 kamen 2,3 Milliarden Artikel im Wert von insgesamt 28 Milliarden Euro in der EU an, die unter dem Grenzwert der Verpflichtung zur Zolldeklaration von 150 Euro lagen. Diese enorme Anzahl von Paketen macht damit allerdings nur ein Prozent des gesamten Importwerts aus. Schätzungen für 2024 gehen von vier Milliarden Paketen aus, die in der EU ankommen werden. Und 80 Prozent dieser Pakete unter 150 Euro kommen aus China.[6] Auch die Folgenabschätzung der Europäischen Kommission für die Zollreform stellt fest, dass das derzeitige Zollmodell nicht für den Online-Handel und die Bekämpfung nicht konformer und gefährlicher Produkte, die in den Binnenmarkt gelangen, geeignet ist.[7]
Die Folge sind nicht konforme, teils gefährliche Produkte auf dem Binnenmarkt durch unfairen Wettbewerb
Zwei Drittel der auf Online-Marktplätzen gekauften Produkte fallen bei Sicherheitstests durch.[8] Gemeldete Probleme mit Vorschriften zu Produktsicherheit, Chemikalien, Lebensmitteln, Kontaktmaterialien und anderen Gesundheits- und Umweltfragen werden bei importierten Produkten dreimal häufiger festgestellt als bei in der EU hergestellten Produkten.[9] Nur ein Beispiel: 95 Prozent der bei Temu gekauften Spielzeuge verstoßen gegen die EU-Sicherheitsvorschriften.[10] Das ist nicht nur gefährlich für Verbraucher*innen, die erwarten, dass ihre Produkte auf dem Binnenmarkt dem Vorsorgeprinzip entsprechend sicher und regelkonform sind. Sie haben im Schadensfall häufig auch keinen Zugang zu den Herstellern außerhalb der EU. Und es entsteht unfairer Wettbewerb mit Herstellern in der EU, die sich an unsere Regeln und Standards halten.
Auch die Umwelt nimmt Schaden
Vier Milliarden einzeln auf dem Luftweg verschickte Pakete im Jahr bedeuten auch eine immer weiter anwachsende Umweltbelastung. Beispiel Textilbranche: Sie ist für zehn Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich und damit für mehr als der Luftverkehr. Sieben von zehn Kleidungsstücken werden im low cost Bereich auf Platformen wie Shein geshoppt. Die CO2-Emissionen des Online-Handels im Vergleich zum klassischen Einzelhandel sind deutlich erhöht, genauso wie der Energieverbrauch durch Datentransfer, Verpackungsmüll und ineffizientes Retourenmanagement.[11]
Bestehende EU-Gesetzgebungen sind ein erster Schritt, aber lassen Regelungslücken
- Das Gesetz über digitale Dienste: Reguliert Plattformen wie Shein, Temu, AliExpress, Amazon und Zalando, um illegale Inhalte zu bekämpfen. Enthält Mechanismen zur Entfernung illegaler Inhalte, jedoch reagieren Plattformen oft zu langsam. Der DSA befindet sich in der Umsetzungsphase der Mitgliedsstaaten.
- Die Marktüberwachungsverordnung: Regelt, wer für Produkte aus Drittländern verantwortlich ist, falls der Hersteller nicht in der EU ansässig ist. Sie erlaubt auch „Mystery Shopping“, was von Mitgliedsstaaten jedoch selten genutzt wird.
- Die Generelle Produktsicherheitsverordnung: Tritt im Dezember 2024 in Kraft und sieht schärfere Regeln für Online-Marktplätze vor, um unsichere Produkte zu entfernen. Sie verpflichtet Plattformen, Maßnahmen gegen das Wiederauftauchen gefährlicher Produkte zu ergreifen, mit Marktüberwachungsbehörden zusammenzuarbeiten und Unfälle über das Safety Business Gateway, eine europäische Meldestelle, zu melden.
- Die Produkthaftungsrichtlinie: Online-Marktplätze haften unter bestimmten Umständen für fehlerhafte Produkte. Wenn Hersteller außerhalb der EU sind, haften Importeure, Vertreter oder Dienstleister. Plattformen haften, wenn sie den verantwortlichen Akteur nicht identifizieren können oder den Eindruck erwecken, selbst der Anbieter zu sein.
Trotzdem bleiben Lücken in der Regulierung des Online-Handels
Nicht-EU-Unternehmen unterliegen deutlich weniger Schutzmaßnahmen für die Produktsicherheit als europäische Unternehmen. Während EU-Unternehmen nur sichere Produkte auf den Markt bringen dürfen, müssen die Verantwortlichen für Produkte aus Drittstaaten lediglich die technische Dokumentation überprüfen. Diese enthält jedoch oft nicht die vollständigen Risikoanalysen, was die Prüfung durch die Marktüberwachungsbehörden erschwert. Dies führt zu Wettbewerbsverzerrungen und benachteiligt Verbraucher*innen, da autorisierte Vertreter in der EU (wenn sie keine Importeure sind) nicht verpflichtet sind, Entschädigungen zu leisten. So gehen Verbraucher*innen oft leer aus.
Zwölf Forderungen zur Durchsetzung des Verbraucherschutzes im Online-Handel:
Die Europäische Kommission hat eine Strategie für den Online-Handel angekündigt, um fairen Wettbewerb zu fördern und unseren hohen EU-Verbrauchschutz besser durchzusetzen. Hier sind zwölf Vorschläge, um die Herausforderungen des Online-Handels im Sinne der Verbraucher*innen, europäischer Unternehmen und des Planeten zu adressieren:
- Den Status der Online-Marktplätze ändern, um Lücken der Verbraucheransprüche zu schließen: Die in der EU verantwortliche Person von Nicht-EU-Unternehmen muss rechtlich und finanziell für Verletzungen von EU-Regeln verantwortlich sein. In der Praxis sollten bevollmächtigte Vertreter einen Status wie Importeure haben, damit Verbraucher*innen immer Zugang zu Rechtsmitteln und Entschädigungen haben. Leider haben Konservative diesen Vorschlag in der letzten Legislaturperiode nicht unterstützt, der auch bei den Verhandlungen über die Marktüberwachungsverordnung von 2019 auf dem Tisch lag.
- Zusätzliche Verpflichtungen für Online-Marktplätze einführen, wenn sie die Regeln des Gesetzes über digitale Dienste und der Produktsicherheit nicht befolgen: Ohne das im Gesetz über digitale Dienste (DSA) festgelegte Verbot allgemeiner Überwachungspflichten anzutasten, könnten gezielte Verpflichtungen für Online-Marktplätze über die Generelle Produktsicherheitsverordnung (GPSR) hinaus eingeführt werden, falls die Online-Marktplätze bestimmte Anforderungen des DSA und/oder der GPSR nicht erfüllen. Diese Verpflichtungen sollten die Online-Marktplätze gegenüber den Verbraucher*innen in die Verantwortung nehmen.
- Einer Entschädigung für Verbraucher*innen in jedem Falle sicherstellen: Wenn die Online-Marktplätze alle Verpflichtungen erfüllt haben und kein anderer Wirtschaftsakteur für die Entschädigung der Verbraucher*innen zur Verfügung steht (zum Beispiel bei gehacktem Register, Eigentümerwechsel oder einer Insolvenz), können die Online-Marktplätze nicht verantwortlich gemacht werden. Dennoch dürfen die Verbraucher*innen nicht mit leeren Händen dastehen. Über einen über Ad-hoc-Fonds, der in der Produktsicherheitsrichtlinie nur freiwillig verankert ist, sollen sie eine Entschädigung beantragen können.
- Stichprobenartige Kontrollen durch Online-Marktplätze, um Sicherheitsrisiken systematisch zu erkennen: Mit strengeren Verpflichtungen für die Online-Marktplätze sollen sie stichprobenartig überprüfen, ob die von ihnen angebotenen Produkte im Safety Gate Meldeportal als gefährliche Produkte identifiziert wurden und Angaben zur Regelmäßigkeit dieser Kontrollen liefern.
- Strikte Durchsetzung des Gesetzes über digitale Dienste und spezifisch auf AliExpress, Temu und Co. anwenden: Die Europäische Kommission muss das Gesetz über digitale Dienste für die sehr großen Online-Plattformen, zu denen AliExpress, Amazon, Temu, Zalando und Shein gehören, in Bezug auf das zügige Entfernen von rechtswidrigen Inhalten und die Risikoanalyse für illegale Produkte vollständig durchsetzen. Im Rahmen des DSA könnte auch ein Netzwerk vertrauenswürdiger Melder („trusted flaggers“) eingerichtet werden, die auf illegale Produkte und Online-Handel spezialisiert sind, damit sich die Plattformen nicht unter dem Vorwand der Unwissenheit ihrer Verantwortung entziehen können. Systematische Verstöße gegen den DSA müssen streng geahndet werden, zum Beispiel, wenn Plattformen auf Meldungen hin nicht tätig werden oder Produkte nach Anordnungen nicht vom Netz genommen werden.
- Mehr Ressourcen und Instrumente für Marktüberwachung und Zoll, um gegen die Flut der Pakete gewappnet zu sein: Marktüberwachungsbehörden benötigen mehr Ressourcen, stärkere Eingriffsbefugnisse und mehr grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Die Verordnung über die Marktüberwachung gibt den Marktüberwachungsbehörden bereits die Möglichkeit, Testkäufe durchzuführen, auch bei Produkten, die über Online-Marktplätze verkauft werden. Diese Möglichkeit wurde von den Mitgliedstaaten jedoch nur selten genutzt. Darüber hinaus brauchen wir Rahmen des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens der EU für mehr Ressourcen für die Marktüberwachung im Binnenmarktprogramm.
- Zügige Verhandlungen zum Zollkodex, damit der Zoll fit wird für den Online-Handel: Im Mai 2023 schlug die Kommission umfassende Änderungen des Zollkodex der Union vor, um die Arbeitsweise des Zolls zu europäisieren. Durch die Reform wird eine einzige Online-Umgebung, der EU-Zolldatenhub, anstelle eines Flickwerks aus 27 Systemen geschaffen. Das Europäische Parlament hat seine Position schon verhandelt und wartet nun auf den Rat, der schnell zu einem Verhandlungsmandat kommen muss: Es ist höchste Zeit, dass Risiken zentral bewertet und verwaltet werden, um die Zollkontrollen auf Sendungen und Händler zu konzentrieren, die am ehesten gefährlich oder nicht konform sind. Eine neue Zollbehörde muss in der Lage sein, die von den 27 nationalen Zollbehörden kontrollierten und blockierten Waren zu harmonisieren und zu koordinieren und so den Binnenmarkt insgesamt besser zu schützen.
- Online-Marktplätze brauchen zügig einen Sonderstatus beim Zoll: Das Europaparlament fordert, Online-Marktplätzen den Status von „Deemed Importeuren“ zu geben, damit sie Verantwortung für ihre Produkte gegenüber dem Zoll übernehmen. Plattformen, die nicht konforme Produkte auf den Markt bringen, bekommen dann ein schlechteres Risikoprofil mit mehr Kontrollen bis hin zum Blockieren der ihrer Waren, wenn ihr Risikolevel zu hoch ist. Die Reform sorgt auch für eine bessere Koordinierung zwischen dem Zoll und den zuständigen Behörden, die andere Teile des EU-Rechts umsetzen, einschließlich der Marktüberwachungsbehörden. Außerdem sollen Verbraucher*innen im Online-Handel nie wieder versteckte Zollgebühren zahlen müssen. Diese müssen transparent sein und von den Online-Marktplätzen in aggregierter Form bezahlt werden. Die im Parlamentsmandat für 2029 vorgesehenen Änderungen müssen auf so bald wie möglich vorgezogen werden.
- Schnellere Abschaffung der 150-Euro-Grenze für zollpflichtige Waren: Die aktuellen Regeln sehen eine Zollbefreiung für Waren unter 150 Euro und vereinfachte Zollanmeldungen vor. Das schafft derzeit einen Anreiz für Händler, ihre Waren bei den Zollbehörden unter Wert anzugeben, es erschwert die Risikoanalyse aufgrund fehlender Informationen und ist für die große Menge Pakete verantwortlich, die direkt aus dem Drittstaat zu Endverbraucher*innen gelangen. Durch die Abschaffung dieses Schwellenwerts so schnell wie möglich wird eine wichtige Gesetzeslücke geschlossen und die Wettbewerbsbedingungen zwischen Online-Handel und traditionellem Einzelhandel verbessert.
- Neue Mehrwertsteuervorschriften für den Online-Handel als Schritt zu fairerem Wettbewerb: Die Mehrwertsteuer-Reform von 2021 führte das System eines One-Stop-Shops für Importe ein, bei denen Plattformen aus Drittstaaten in einem EU-Staat Mehrwertsteuer auf alle Verkäufe melden können. Diese Regelung gilt nur bis zu einem Wert von 150 Euro, was zur Unterbewertung von Waren führt. Die Aufhebung der Zollfreigrenze wird den Wettbewerbsvorteil für Drittland-Plattformen verringern, weshalb sie vorgezogen werden sollte.
- Nachhaltigen Konsum auf Online-Marktplätzen by Design stärken: Plattformregulierung by Design kann stärkere Verpflichtungen zu Information und Kennzeichnung einführen, um Verbraucher*innen auf die Umweltauswirkungen des Online-Handels aufmerksam zu machen, Filtern anhand von Nachhaltigkeitskriterien zu ermöglichen, sowie die Nachhaltigkeit der Warenlogistik, der Verpackung, des Versands und des Retourenmanagements zu verbessern.
- Digitale Fairness stärken: Verbraucher*innen vor Manipulation schützen: Die Europäische Verbraucherschutzorganisation hat Temu wegen mangelnder Informationen über Verkäufer und Produktsicherheit sowie manipulativer Praktiken, sogenannten Dark Patterns, angezeigt. Ein Gesetz zur digitalen Fairness muss strenge Regeln gegen Dark Patterns und andere manipulative Praktiken einführen, wie sie insbesondere bei Shein und Temu beobachtet wurden.
Das ganze Papier als PDF herunterladen könnt ihr hier!
[1] Eurostat (latest available data for year 2022): https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/ISOC_EC_IBGS__custom_7423206/default/table?lang=en
[2] Commission Staff Working Document Fitness Check on EU consumer law on digital fairness, SWD (2024) 230 final, Brussels, 3.10.2024.
[3] DHL European online shopper survey 2023.
[4] IPC Cross-border E-commerce Shopper Survey 2023, January 2024.
[5] Studie der NGO Les amis de la terre France zum Geschäftsmodell von Shein: https://www.amisdelaterre.org/wp-content/uploads/2023/06/decryptage-fast-fashion-vdef.pdf.
[6] E-commerce security and countering illicit transactions, EC News Article, 19 July 2024.
[7] European Commission Impact Assessment accompanying the customs reform proposal.
[8] BEUC, 2020, Two-thirds of 250 products bought from online marketplaces fail safety tests, consumer groups find.
[9] European Commission Impact Assessment accompanying the customs reform proposal.
[10] A mystery shopping exercise from Toy Industries of Europe (TIE 2024).
[11] IMCO-Studie “E-Commerce and EU Green deal”: https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2022/734013/IPOL_STU(2022)734013_EN.pdf
Quelle – Grüne/EFA