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Luxembourg, 18 June 2024

(German version below)

Judgment of the Court in Case C-352/22 – Generalstaatsanwaltschaft Hamm (Request for the extradition of a refugee to Türkiye)

The granting of refugee status in a Member State precludes the extradition of the person concerned to his or her country of origin

As long as the authority that granted that status has not revoked or withdrawn it, the person concerned cannot be extradited, regardless of the underlying reasons for the extradition request

The Court of Justice states that a third-country national cannot be extradited by one Member State to his or her country of origin if that person is recognised as having refugee status in another Member State. The authority to which the extradition request was made must contact the authority that granted that status. As long as the latter authority has not revoked refugee status or withdrawn it, the person concerned cannot be extradited.

Türkiye requested that Germany extradite a Turkish national of Kurdish origin who was suspected of murder.

The German court that is to rule on that request is uncertain whether the fact that the person concerned was recognised as a refugee in Italy in 2010, on the ground that he was at risk of political persecution by the Turkish authorities because of his support for the Kurdistan Workers’ Party (PKK), precludes his extradition.

Since that issue concerns the European asylum system and the Charter of Fundamental Rights of the European Union, the German court referred a question to the Court of Justice.

The Court of Justice has replied that the granting of refugee status in Italy precludes the extradition of the person concerned to his country of origin which he fled. As long as that status has not been revoked or withdrawn by the Italian authorities, extradition must be refused 1. Extradition would, in reality, effectively end that status.

The competent German authority must, in accordance with the principle of sincere cooperation, contact the Italian authority that granted refugee status.

If, following such contact, the Italian authority revokes or withdraws refugee status, the German authority must nevertheless itself have come to the conclusion that the person concerned is not, or is no longer, a refugee 2. It must also satisfy itself that there is no serious risk that, in the event of that person’s extradition, he would be subjected to the death penalty, torture or other inhuman or degrading treatment or punishment in Türkiye.

NOTE: A reference for a preliminary ruling allows the courts and tribunals of the Member States, in disputes which have been brought before them, to refer questions to the Court of Justice about the interpretation of EU law or the validity of an EU act. The Court of Justice does not decide the dispute itself. It is for the national court or tribunal to dispose of the case in accordance with the Court’s decision, which is similarly binding on other national courts or tribunals before which a similar issue is raised.

Unofficial document for media use, not binding on the Court of Justice. The full text and, as the case may be, an abstract of the judgment is published on the CURIA website on the day of delivery.

1 The Court points out, however, that the EU legislature has not, at this stage, established a principle that Member States are obliged to recognise automatically the decisions granting refugee status that have been adopted by another Member State. Member States are therefore free to make recognition of all of the rights relating to refugee status on their territory subject to the adoption, by their competent authorities, of a new decision granting refugee status.

2 Formal recognition of refugee status by a Member State is merely declaratory. Thus, a third-country national or a stateless person who satisfies the relevant conditions is, on that basis alone, a refugee.

Source – EU Court of Justice: 101/2024 : 18 June 2024 – Judgment of the Court of Justice in Case C-352/22

 

Die Anerkennung als Flüchtling in einem Mitgliedstaat steht der Auslieferung des Betroffenen an sein Herkunftsland entgegen

Solange die Behörde, die die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, diese nicht aberkannt hat, darf der Betroffene unabhängig von den Gründen, auf die das Auslieferungsersuchen gestützt wird, nicht ausgeliefert werden

Der Gerichtshof stellt klar, dass ein Drittstaatsangehöriger nicht an sein Herkunftsland ausgeliefert werden darf, wenn ihm von einem Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde. Die mit dem Auslieferungsersuchen befasste Behörde muss mit der Behörde, die die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, Kontakt aufnehmen. Solange diese Behörde die Flüchtlingseigenschaft nicht aberkannt hat, darf der Betroffene nicht ausgeliefert werden.

Die Türkei hat Deutschland um die Auslieferung eines türkischen Staatsangehörigen kurdischer Herkunft ersucht, der des Totschlags verdächtig ist.

Dem deutschen Gericht, das über dieses Ersuchen zu entscheiden hat, stellt sich die Frage, ob der Auslieferung die Tatsache entgegensteht, dass der Betroffene im Jahr 2010 in Italien als Flüchtling anerkannt wurde, weil ihm wegen seiner Unterstützung der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) politische Verfolgung durch die türkischen Behörden drohte.

Da diese Frage das Gemeinsame Europäische Asylsystem sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union betrifft, hat das deutsche Gericht hierzu den Gerichtshof befragt.

Der Gerichtshof entscheidet, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Italien der Auslieferung des Betroffenen an sein Herkunftsland, aus dem er geflohen ist, entgegensteht. Solange die italienischen Behörden die Flüchtlingseigenschaft nicht aberkannt haben, ist die Auslieferung abzulehnen1. Denn eine solche Auslieferung würde faktisch bedeuten, dass die Flüchtlingseigenschaft beendet wird.

Die zuständige deutsche Behörde muss gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit mit der italienischen Behörde, die die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, Kontakt aufnehmen.

Erkennt die italienische Behörde daraufhin die Flüchtlingseigenschaft ab, ist außerdem erforderlich, dass die deutsche Behörde selbst zu dem Ergebnis gelangt, dass der Betroffene die Flüchtlingseigenschaft nicht oder nicht mehr besitzt2. Darüber hinaus muss sie sich vergewissern, dass im Fall der Auslieferung des Betroffenen an die Türkei für ihn dort kein ernsthaftes Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.

HINWEIS: Mit einem Vorabentscheidungsersuchen haben die Gerichte der Mitgliedstaaten die Möglichkeit, dem Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsstreits, über den sie zu entscheiden haben, Fragen betreffend die Auslegung des Unionsrechts oder die Gültigkeit einer Handlung der Union vorzulegen. Der Gerichtshof entscheidet dabei nicht den beim nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Dieser ist unter Zugrundelegung der Entscheidung des Gerichtshofs vom nationalen Gericht zu entscheiden. Die Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, wenn diese über vergleichbare Fragen zu befinden haben.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nicht amtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Der Volltext und gegebenenfalls die Zusammenfassung des Urteils werden am Tag der Verkündung auf der Curia- Website veröffentlicht.

1 Der Gerichtshof weist jedoch darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber bislang keinen Grundsatz aufgestellt hat, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen. Den Mitgliedstaaten steht es daher frei, die Anerkennung sämtlicher mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechte in ihrem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass ihre zuständigen Behörden eine neue Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erlassen.

2 Die förmliche Anerkennung als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat hat nämlich nur deklaratorischen Charakter. Daher verfügt ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser, der die einschlägigen Voraussetzungen erfüllt, allein aus diesem Grund über die Eigenschaft als Flüchtling.

Quelle – EU-Gerichtshof: 101/2024 : 18. Juni 2024 – Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-352/22

 

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