Sat. Oct 5th, 2024
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Young women in Anfganistan. Photo by ArmyAmber on Pixabay

Luxembourg, 4 October 2024

(Scroll down for German version)

Judgment of the Court in Joined Cases C-608/22 and C-609/22 | Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl and Others (Afghan women)

Discriminatory measures adopted in respect of women by the Taliban regime constitute acts of persecution

When carrying out an individual assessment of the application for asylum of a woman of Afghan nationality, a Member State is entitled to take into consideration her gender and nationality alone

Two women with Afghan nationality challenge the refusal by the Austrian authorities to recognise their refugee status before the Austrian Supreme Administrative Court. They claim that the situation of women under the new Taliban regime alone justifies being granted that status.

According to the Austrian court, the return to power of that regime in 2021 has serious implications for the fundamental rights of women. It establishes many discriminatory measures consisting, for example, in depriving them of any legal protection against gender-based and domestic violence and forced marriage, requiring them to cover their entire body and face, restricting their access to healthcare and freedom of movement, prohibiting them from engaging in gainful employment or limiting the extent to which they can do so, prohibiting their access to education and excluding them from political life.

The Austrian court considers that women with Afghan nationality belong to ‘a particular social group’ within the meaning of Directive 2011/95. 1 Those women may be exposed in Afghanistan to acts of persecution on account of their gender. That national court therefore asks the Court of Justice, first, whether the discriminatory measures described above, taken as a whole, can be classified as acts of persecution which may justify the recognition of refugee status. It asks, second, whether the competent national authority, in the individual assessment of an application for asylum submitted by a women of Afghan nationality, is required to take into consideration elements other than her nationality and gender.

First, the Court answers that some of the measures in question must be classified alone as ‘acts of persecution’, because they constitute a serious breach of a fundamental right. This is true of forced marriage, which is comparable to a form of slavery, and the lack of protection against gender-based violence and domestic violence, which constitute forms of inhuman and degrading treatment.

Even if, taken separately, the other measures do not constitute a sufficiently serious breach of a fundamental right to be classified as acts of persecution, the Court considers that, taken as a whole, those measures constitute such acts. Given that those measures have a cumulative effect and are applied deliberately and systematically, they blatantly deny fundamental rights related to human dignity.

Second, regarding the individual examination of an application for asylum of a woman of Afghan nationality, the Court takes into consideration the situation of women under the current Taliban regime as set out in, inter alia, the reports issued by the European Union Asylum Agency (EUAA) and the United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR). The Court finds that the competent authorities of the Member States are entitled to Communications Directorate consider that it is unnecessary to establish that there is a risk that the applicant will actually and specifically be subject to acts of persecution if she returns to her country of origin. It is sufficient to take into account her nationality and gender alone.

NOTE: A reference for a preliminary ruling allows the courts and tribunals of the Member States, in disputes which have been brought before them, to refer questions to the Court of Justice about the interpretation of EU law or the validity of an EU act. The Court of Justice does not decide the dispute itself. It is for the national court or tribunal to dispose of the case in accordance with the Court’s decision, which is similarly binding on other national courts or tribunals before which a similar issue is raised.

Unofficial document for media use, not binding on the Court of Justice. The full text and, as the case may be, an abstract of the judgment is published on the CURIA website on the day of delivery.

1 Directive 2011/95/EU of the European Parliament and of the Council of 13 December 2011 on standards for the qualification of third-country nationals or stateless persons as beneficiaries of international protection, for a uniform status for refugees or for persons eligible for subsidiary protection, and for the content of the protection granted.

 


Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen C-608/22 und C-609/22 | Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl u. a. (Afghanische Frauen)

Die diskriminierenden Maßnahmen des Taliban-Regimes gegen Frauen stellen Verfolgungshandlungen dar

Bei der individuellen Prüfung des Asylantrags einer afghanischen Frau genügt es, wenn ein Mitgliedstaat lediglich ihr Geschlecht und ihre Staatsangehörigkeit berücksichtigt

Zwei Frauen mit afghanischer Staatsangehörigkeit wenden sich vor dem österreichischen Verwaltungsgerichtshof gegen die Weigerung der österreichischen Behörden, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Sie machen geltend, die Situation der Frauen unter dem neuen Taliban-Regime in Afghanistan allein rechtfertige schon die Gewährung dieses Status.

Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs hat die Rückkehr dieses Regimes an die Macht im Jahr 2021 schwerwiegende Auswirkungen auf die Grundrechte von Frauen. Das Regime führe zahlreiche diskriminierende Maßnahmen ein, die beispielsweise darin bestünden, dass Frauen keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt würden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt sowie Zwangsverheiratungen erhalten zu können, sie ihren Körper vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen hätten, ihnen der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert werde, ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt werde, sie einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß nachgehen dürften, der Zugang zu Bildung eingeschränkt werde und sie vom politischen Leben ausgeschlossen würden.

Der Verwaltungsgerichtshof ist der Auffassung, afghanische Frauen gehörten zu einer „bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne der Richtlinie 2011/951. Diese Frauen könnten in Afghanistan Verfolgungshandlungen aufgrund ihres Geschlechts ausgesetzt sein. Es möchte daher vom Gerichtshof zum einen wissen, ob die vorstehend beschriebenen diskriminierenden Maßnahmen in ihrer Gesamtheit als Verfolgungshandlungen eingestuft werden können, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen könnten. Zum anderen möchte es wissen, ob die zuständige nationale Behörde im Rahmen der individuellen Prüfung des Asylantrags einer afghanischen Frau andere Aspekte als deren Staatsangehörigkeit und Geschlecht berücksichtigen muss.

Erstens antwortet der Gerichtshof, dass einige der fraglichen Maßnahmen für sich genommen als „Verfolgung“ einzustufen sind, da sie eine schwerwiegende Verletzung eines Grundrechts darstellen. Dies gilt für die Zwangsverheiratung, die einer Form der Sklaverei gleichzustellen ist, und für den fehlenden Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, die Formen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung darstellen.

Wenn man annimmt, dass es sich bei den anderen Maßnahmen für sich genommen im Hinblick auf die Einstufung als Verfolgung um keine ausreichend schwerwiegende Verletzung eines Grundrechts handelt, so stellen diese Maßnahmen nach Ansicht des Gerichtshofs in ihrer Gesamtheit doch eine solche Verfolgung dar. Aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung führen sie dazu, dass in flagranter Weise die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden.

Zweitens berücksichtigt der Gerichtshof in Bezug auf die individuelle Prüfung des Asylantrags einer Frau mit afghanischer Staatsangehörigkeit die Situation von Frauen unter dem derzeitigen Taliban-Regime, wie sie insbesondere in den Berichten der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) und des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) dargelegt wurde. Der Entscheidung des Gerichtshofs zufolge können die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten davon ausgehen, dass nicht festgestellt werden muss, dass die Antragstellerin bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht. Es genügt, lediglich ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht zu berücksichtigen.

HINWEIS: Mit einem Vorabentscheidungsersuchen haben die Gerichte der Mitgliedstaaten die Möglichkeit, dem Gerichtshof im Rahmen eines Rechtsstreits, über den sie zu entscheiden haben, Fragen betreffend die Auslegung des Unionsrechts oder die Gültigkeit einer Handlung der Union vorzulegen. Der Gerichtshof entscheidet dabei nicht den beim nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit. Dieser ist unter Zugrundelegung der Entscheidung des Gerichtshofs vom nationalen Gericht zu entscheiden. Die Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, wenn diese über vergleichbare Fragen zu befinden haben.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nicht amtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Der Volltext und gegebenenfalls die Zusammenfassung des Urteils werden am Tag der Verkündung auf der Curia-Website veröffentlicht.

1 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes.

Source – EU Court of Justice (per email)

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