Luxemburg, 21. November 2024
Zwei Käufer von Mercedes-Dieselfahrzeugen haben die Mercedes Benz-AG vor dem Landgericht Duisburg auf Schadensersatz verklagt, weil die Fahrzeuge mit unionsrechtlich unzulässigen Einrichtungen ausgerüstet seien. Das Landgericht Duisburg hat dem Gerichtshof in diesem Zusammenhang eine Reihe von Fragen vorgelegt.
Kontext
Die Tragweite der Vorschriften der Europäischen Union über Schadstoffemissionen von Dieselkraftfahrzeugen gab dem Gerichtshof bereits mehrfach Anlass, über die Auslegung der Richtlinie 2007/46/EG2 und der Verordnung (EG) Nr. 715/20073 zu entscheiden. Mit seinen Vorabentscheidungsersuchen in den vorliegenden verbundenen Rechtssachen ersucht das Landgericht Duisburg (Deutschland) den Gerichtshof, im Anschluss an das von der Großen Kammer erlassene Urteil C-100/214 diese Rechtsprechung insbesondere hinsichtlich der Frage zu vertiefen, welcher Schadensersatzanspruch dem individuellen Käufer eines Kraftfahrzeugs zusteht, das die in dieser Verordnung vorgesehenen Grenzwerte von Stickstoffoxid(NOx)-Emissionen nicht einhält.
Diese Vorabentscheidungsersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen den natürlichen Personen OB (Rechtssache C-251/23) bzw. YV (Rechtssache C-308/23) und der Mercedes-Benz Group AG wegen des Anspruchs der Kläger auf Schadensersatz wegen des Erwerbs von Dieselkraftfahrzeugen, die mit nach dem Unionsrecht unzulässigen Einrichtungen ausgerüstet sein sollen.
Ergebnis in den Schlussanträgen
Generalanwalt Rantos schlägt dem Gerichtshof vor, dem Landgericht Duisburg wie folgt zu antworten:
1. Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge in der durch die Verordnung (EU) Nr. 459/2012 der Kommission vom 29. Mai 2012 geänderten Fassung
sind dahin auszulegen,
dass ein Fahrzeug mit einem Dieselmotor der Generation Euro 5 unabhängig davon, ob eine Abschalteinrichtung vorhanden ist, die in Anhang I dieser Verordnung vorgesehenen Emissionsgrenzwerte dann nicht einhält, wenn der Motor dieses Fahrzeugs, nachdem er warmgelaufen ist, mehr als 180 mg/km Stickoxide ausstößt, wenn er in diesem Zustand den Test „New European Driving Cycle“ (NEDC) durchfährt, da die Fahrt mit warmgelaufenem Motor eine im Sinne dieser Bestimmungen normale Nutzung, d. h. unter tatsächlichen Fahrbedingungen, wie sie im Gebiet der Union üblicherweise vorherrschen, dieses Fahrzeugs darstellt.
2. Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2007 in der durch die Verordnung Nr. 459/2012 geänderten Fassung
sind dahin auszulegen,
dass ein Fahrzeug mit einem Dieselmotor der Generation Euro 5 oder Euro 6 unabhängig davon, ob eine Abschalteinrichtung vorhanden ist, die in Anhang I dieser Verordnung vorgesehenen Emissionsgrenzwerte dann nicht einhält, wenn ein Konstruktionsteil in diesem Fahrzeug die Parameter des Verbrennungsvorgangs dahin verändert, dass sich die Emissionen einer schädlichen Substanz erhöhen und sich gleichzeitig die Emissionen anderer schädlicher Substanzen verringern, diese Erhöhung aber zur Überschreitung des in diesem Anhang festgelegten, für die betreffende schädliche Substanz geltenden Grenzwerts führt.
3. Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 in der durch die Verordnung Nr. 459/2012 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen,
dass ein Konstruktionsteil in einem Dieselkraftfahrzeug, das die Parameter des Verbrennungsvorgangs dahin verändert, dass sich die Emissionen einer schädlichen Substanz erhöhen und sich gleichzeitig die Emissionen anderer schädlicher Substanzen verringern, dann eine „Abschalteinrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn diese Erhöhung zur Überschreitung des in Anhang I dieser Verordnung festgelegten, für die betreffende schädliche Substanz geltenden Grenzwerts führt.
4. Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 715/2007 in der durch die Verordnung Nr. 459/2012 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen,
dass eine Abschaltvorrichtung nur dann unter die Ausnahme vom Verbot der Verwendung solcher Einrichtungen fallen kann, wenn diese Einrichtung nicht nur zum Schutz des Motors vor Beschädigung oder Unfall, sondern auch zur Gewährleistung des sicheren Betriebs des Fahrzeugs notwendig ist.
5. Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge (Rahmenrichtlinie) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 136/2014 der Kommission vom 11. Februar 2014 geänderten Fassung,
sind dahin auszulegen,
dass sie zur Einhaltung des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes Vorschriften des nationalen Rechts entgegenstehen, die in einem Rechtsstreit zwischen dem Käufer eines Kraftfahrzeugs und dessen Hersteller über einen Schadensersatzanspruch wegen einer in dem Fahrzeug installierten Abschalteinrichtung oder anderen unzulässigen Schaltungen bzw. Steuerungen dem Käufer in vollem Umfang auferlegen, das Vorliegen dieser Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 in der durch die Verordnung Nr. 459/2012 geänderten Fassung und auch das Nichtvorliegen einer Ausnahme vom Verbot der Verwendung einer solchen Einrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung zu beweisen, ohne dass der Hersteller des Fahrzeugs in einer Beweisaufnahme hierüber Informationen beisteuern muss.
6. Art. 3 Nr. 36 und Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46 in der durch die Verordnung Nr. 136/2014 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass die Ausstellung einer Übereinstimmungsbescheinigung für den individuellen Käufer eines Fahrzeugs durch den Hersteller den Zweck hat, diesen Käufer spezifisch davor zu schützen, einen Erwerb eines nicht den Anforderungen des Unionrechts genügenden Fahrzeugs zu tätigen, und dass in dem Fall, dass lediglich fahrlässig eine unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung für das Fahrzeug erteilt wurde, dieser Käufer einen Schadensersatzanspruch in Gestalt der betragsmäßigen Erstattung der entstandenen Vermögensdifferenz hat, ohne dass der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet wäre, dem Erwerber den Anspruch auf Erstattung der Kosten für den Erwerb des Fahrzeugs, gegebenenfalls Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs und unter Anrechnung des Wertes etwaiger sonstiger seitens des Erwerbers aufgrund des Erwerbs des Fahrzeugs erlangter Vorteile, einzuräumen.
Volltext der Schlussanträge
Quelle – Europäischer Gerichtshof (per E-Mail)